Forschungsstelle Digitale Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit ist bei Vergaben mehr Wunsch als Realität

Beitrag von Dr. Matthias Stürmer in der Schweizer Gemeinde 3 / 2017

Die Gesetzesrevision des Beschaffungswesens räumt neu der Nachhaltigkeit eine zentrale Stellung ein. Aktuell ist das Kriterium Nachhaltigkeit höchst selten von Belang, wie eine Analyse der Universität Bern zeigt.

Für die einen ein Schreckgespenst, für die anderen eine Goldgrube: simap.ch, das Informationssystem über das öffentliche Beschaffungswesen in der Schweiz, polarisiert die Gemüter. Und dennoch, weil es heute in der Schweiz Pflicht ist für Behörden, ihre Ausschreibungen und Zuschläge öffentlich zu publizieren, kommt niemand mehr um simap.ch herum. Heute umfasst die Plattform über 100 000 Meldungen; an Arbeitstagen werden im Durchschnitt rund 50 neue Meldungen erstellt.

Forschung mit Beschaffungsdaten

Aufgrund dieser Datenlage hat die Forschungsstelle Digitale Nachhaltigkeit am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität Bern vor einigen Jahren begonnen, alle im Internet öffentlich zugänglichen Meldungen auf simap.ch abzurufen, in ihre elementaren Dateneinheiten (Titel, Beschaffungsstelle, Verfahrensart usw.) einzuteilen und diese anschliessend miteinander zu verlinken. Auf www.beschaffungsstatistik.ch ist diese Datensammlung frei zugänglich, täglich aktualisiert mit den neusten Publikationstexten.

Zürcher und Genfer Gemeinden schreiben am häufigsten öffentlich aus

Durch die Analyse dieser Daten lassen sich interessante Erkenntnisse erzielen. Beispielsweise können die Zuschläge aller Gemeinden und Städte pro Kanton im Zeitraum 2010 bis 2016 miteinander verglichen werden (Abbildung 1). Erwartungsgemäss haben die Gemeinden im Kanton Zürich am meisten Zuschläge publiziert (3576): Zürich ist auch der Kanton mit der höchsten Bevölkerungszahl. Im Verhältnis zur Bevölkerungsgrösse haben die Gemeinden im Kanton Zürich somit 2,44 Zuschläge pro 1000 Einwohner erteilt. Als nächster Kanton folgt Genf, wo mit 2,07 Zuschlägen pro 1000 Einwohner immer noch relativ viele Vergaben veröffentlicht werden. Relativ gesehen, publizieren die Gemeinden in den Kantonen Waadt, Bern und Fribourg deutlich weniger Zuschläge. So stellt sich die Frage, ob die Zürcher und Genfer Gemeinden mehr beschaffen als die Gemeinden in den übrigen Kantonen oder ob diese vielleicht die einen oder anderen Zuschläge zu publizieren «vergessen haben».

Frappante, unerklärliche Unterschiede

Noch deutlicher sind die Unterschiede in den weiteren Kantonen. Der Aargau hat beispielsweise nur leicht weniger Einwohner als die Waadt, jedoch publizieren die Aargauer Gemeinden rund sechs Mal weniger Beschaffungen als die Waadtländer Gemeinden.

Trotz vergleichbarer Bevölkerungszahl in den Kantonen sind die Unterschiede bei den Veröffentlichungen der Zuschläge von Gemeinden bedeutend und lassen sich nur schwer erklären. Grafik: Céline Hoppler, Quelle: Universität Bern

Das Tessin hat gar etwas mehr Einwohner als der Kanton Wallis, die Tessiner Gemeinden veröffentlichen jedoch ebenfalls sechs Mal weniger Zuschläge als die Walliser Gemeinden. In den Kantonen Uri, Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden hat bislang nur je eine Gemeinde eine Beschaffung publiziert. Im Kanton Obwalden hat gar noch nie eine Gemeinde einen Zuschlag auf simap.ch veröffentlicht. Diese frappanten Unterschiede zeigen, dass die Publikationspraxis punkto öffentlicher Ausschreibungen von Kanton zu Kanton offenbar sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Dies kann einerseits daran liegen, dass Aufträge erst im Staatsvertragsbereich (350 000 Franken für Güter/Dienstleistungen bzw. 8,7 Mio. bei Bauten) publiziert werden müssen und somit viele Gemeindeaufträge nicht betroffen sind. Andererseits ist die Publikation auf simap.ch nach heutigem Recht nicht in allen Kantonen Pflicht. Doch in einigen Gemeinden werden wohl tatsächlich Publikationsvorschriften ignoriert.

6,6 Promille «nachhaltig»

Die Daten auf simap.ch erlauben noch weitere interessante Analysen, in Bezug auf nachhaltige Beschaffung etwa. Bei allen Beschaffungen, die gemäss Meldetext auf simap.ch mit Nachhaltigkeit zu tun haben (Suchbegriff «nachhaltig»), konnten von 2008 bis Anfang 2017 insgesamt 296 Ausschreibungen auf Stufen Bund, Kantone und Gemeinden identifiziert werden. Dabei kann zwar eine leichte Zunahme solcher Ausschreibungen in den letzten vier Jahren vermutet werden (Abbildung 2), angesichts der meist steigenden Anzahl Ausschreibungen verharrt der Trend jedoch auf einem konstant tiefen Niveau (Abbildung 3). So enthalten seit 2008 durchschnittlich bloss 6,6 Promille der Ausschreibungen den Begriff «nachhaltig». Etwa ein Viertel dieser «nachhaltigen» Ausschreibungen sind bei den Städten, Gemeinden und anderen kommunalen Organisationen angefallen (26%), knapp ein Drittel beim kantonalen Ausschreibungen (30%) und die übrigen (44%) auf Bundesebene inklusive staatlicher Unternehmen wie der SBB oder der Post. Von den insgesamt 296 Ausschreibungen waren 77 Bauaufträge (26%), 153 Dienstleistungsaufträge (53%) und 59 Lieferaufträge (21%).

Überstrapazierte Verwendung des Nachhaltigkeitsbegriffs

Schaut man sich die Ausschreibungen genauer an, fällt auf, dass nicht überall, wo Nachhaltigkeit drauf steht, auch Nachhaltigkeit drin ist. Wie in anderen Bereichen wird der Begriff «Nachhaltigkeit» auch bei öffentlichen Ausschreibungen gerne überstrapaziert und fälschlicherweise als Synonym für «dauerhaft» und «erfolgreich» verwendet. So wurde etwa vom Kanton Bern letztes Jahr eine Informatikbeschaffung getätigt, bei der unter anderem stand: «Richtigkeit, Qualität und Nachhaltigkeit von Lösungsvorschlägen des Implementierungspartners überprüfen.» Oder in einem Auftrag des Kantons Luzern zur Integration von Arbeitslosen hiess es: «Das Ziel dieser Leistungen ist gemäss Arbeitslosenversicherungsgesetz die möglichst rasche und nachhaltige Wiedereingliederung der Stellensuchenden in den Arbeitsmarkt.» Bei der Ausschreibung für die Organisation der Schweizer Filmpreisverleihung des Bundesamts für Kultur stand gar: «Erwartet wird ein komplettes Eventmanagement mit einem hohen und nachhaltigen Wiedererkennungswert.» Diesem saloppen Gebrauch steht das international anerkannte Nachhaltigkeitsverständnis gegenüber, basierend auf dem 1987 publizierten Brundtland- Bericht «Our Common Future» der Vereinten Nationen. Dieses sieht vor, dass die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt werden, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können. Für die Schweiz ist dieses Verständnis der nachhaltigen Entwicklung auf Verfassungsstufe in Artikel 2 als Staatsziel definiert und in Artikel 73 («Nachhaltigkeit») weiter ausformuliert: «Bund und Kantone streben ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen anderseits an.»

Unterschiedliche Gewichtung

Abgesehen von einigen wenigen fehlgeleiteten Formulierungen wendeten die meisten Beschaffungsstellen den Begriff der Nachhaltigkeit als Beschaffungskriterium korrekt an. Unterschiede gab es jedoch in dessen Gewichtung. In einigen Fällen wie beispielsweise der letztjährigen Beschaffung von Gefahrenstoffen (chemische Reinigungsmittel, Schmiermittel usw.) für die SBB oder einer gedruckten Publikation für den Kanton Wallis wurde Nachhaltigkeit mit bloss 5% gewichtet. Ein solch niedriger Anteil fällt kaum ins Gewicht, ist aber dennoch ein Signal an den Markt, dass die ausschreibende Stelle Nachhaltigkeit als relevant erachtet. Oftmals wurde eine Gewichtung von 10% bis 15% gewählt, so etwa bei der Beschaffung eines Tanklöschfahrzeugs für die Gemeindeverbandsfeuerwehr Arni-Islisberg oder bei der Ausschreibung von Arbeitskleidern für die Industriellen Werke Basel (IWB). In einigen Fällen wurde eine Gewichtung von 20% festgelegt, so zum Beispiel bei der Nachhaltigkeit des Herstellverfahrens von Photovoltaikmodulen für die Stadt Bern.

Wichtiger Faktor bei der Belieferung von Personal- und Schulkantinen

Eine noch höhere Gewichtung der Nachhaltigkeit ist interessanterweise in einem ganz bestimmten Bereich festzustellen, nämlich bei der Zubereitung und Auslieferung von Mahlzeiten für Tagesschulen und Personalrestaurants. So hatte die Stadt Thun bei der Ausschreibung des Caterings für den Mittagstisch eine Gewichtung der Nachhaltigkeit von 25% festgelegt. Und als die Stadt Zürich im vergangenen Dezember die Lieferung von Lebensmitteln an die Personalrestaurants für die kommenden vier Jahre ausschrieb, gewichtete sie die Nachhaltigkeit mit 30%. Spitzenreiter ist die Stadt Bern. Sie hatte 2014 bei der Ausschreibung für einen Pilotversuch des Caterings der Berner Tagesschulen und Kindertagesstätten gar eine Gewichtung der Nachhaltigkeit von 40% festgelegt. Da mag es etwas paradox klingen, dass ausgerechnet die Firma Menu and More AG aus Zürich diesen Auftrag erhielt und das Essen fortan aus Zürich angeliefert wurde. Entsprechend kritisch waren die Medienberichte und politischen Reaktionen.

Der Trend bleibt unverändert: Seit 2008 enthalten durchschnittlich bloss 6,6 Promille der Ausschreibungen den Begriff «nachhaltig».Grafik: Céline Hoppler, Quelle: Universität Bern

Ausschreibungen nehmen fast kontinuierlich zu. Grafik: Céline Hoppler, Quelle: Universität Bern

Standards für das Bauwesen

Meist ohne Angabe der Gewichtung ist Nachhaltigkeit bei Ingenieur- und Bauausschreibungen vorgegeben. Auf simap.ch steht oftmals nur kurz, dass eine nachhaltige Bauweise erwartet wird – so zum Beispiel, als die Gemeinde Ittigen 2010 eine Ausschreibung von Architektur- und Ingenieurleistungen vornahm. Glücklicherweise sind im Bauwesen oftmals Standards vorhanden, die bereits sehr präzise vorschreiben, wie gebaut werden muss. So hat etwa die römisch-katholische Gesamtkirchgemeinde von Bern und Umgebung im Dezember 2016 die SIA-Empfehlung 112/1 2004 «Nachhaltiges Bauen Hochbau» bei der Ausschreibung einer Planergemeinschaft vorgegeben. Andere Behörden verfügen über eigene Merkblätter und fügen deshalb, wie zum Beispiel die Einwohnergemeinde Sissach bei der Ausschreibung einer elektronischen Trefferanzeige, die Vorgabe einer Nachhaltigkeitserklärung ein.

Nachhaltigkeit neu im Zentrum

Währenddem in der Vergangenheit Nachhaltigkeitskriterien in der öffentlichen Beschaffung wie aufgezeigt selten Anwendung fanden, wird deren Relevanz in Zukunft vermutlich zunehmen. Der Entwurf der für die Gemeinden relevanten Interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen (IVöB) sieht in Zweckartikel 1 vor, dass bei öffentlichen Beschaffungen neben dem wirtschaftlichen Einsatz der Mittel künftig auch die Nachhaltigkeit berücksichtigt werden muss. Zudem wird Nachhaltigkeit in Artikel 31 als mögliches Zuschlagskriterium explizit genannt. Genauere Angaben darüber, welche konkreten Nachhaltigkeitskriterien rechtlich möglich und inhaltlich sinnvoll sind, werden im Entwurf der IVöB nicht detailliert gemacht. Ziel der künftigen Forschung der Universität Bern ist es deshalb, die in der Vergangenheit verwendeten Kriterien zu analysieren, um deren Funktionsweise und Wirksamkeit besser zu verstehen. So sollen Vergleiche angestellt und Best Practices entwickelt werden, damit im neuen Beschaffungsgesetz Nachhaltigkeit noch besser berücksichtigt werden kann.